Montag, 9. Mai 2016

Das Gefühl von Zuhause

Sie steht auf der Veranda und betrachtet die Landschaft, die sich unter ihren Füßen erstreckt. Hier und da ein einsames Haus aber ansonsten die wilde Natur mit Wäldern, kleinen Bächen, Tieren und Feldern. Sie kennt diesen Ausblick wie ihre Manteltasche. Sie weiß genau, wo die Häuser aufhören und die Hügel beginnen. Sie hat ihn schon so oft gesehen aber nur selten bewusst wahrgenommen. Jetzt ist einer von diesen seltenen Momenten.
Ihre Gedanken ziehen einer nach dem anderen vorbei, wie die Wolken am Himmel.
Sie steht auf der Veranda im Haus ihrer Eltern, dort wo sie aufgewachsen und groß geworden ist. Bis ihr das kleine Haus und das gefühlt noch kleinere Dorf zu klein wurden. Bis sie raus in die weite Welt wollte und auf ihrer ersten Reise Blut geleckt hatte: nie mehr zurückkehren, schwor sie sich. Und bis heute hat sie diesen Schwur nicht gebrochen.
Sie ist viel gereist, hat neue Menschen, Bräuche und Kulturen kennengelernt. Sich auf der Reise sagend, dass das Reisen selbst ihr Zuhause sei. Sich vormachend, dass sie kein festes Zuhause brauche.

Auf der Veranda erinnert sie sich wieder: an das Gefühl, einen festen Ort sein Zuhause nennen zu können. Einen Rückzugsort zu haben, falls es einem schlecht geht. Zu wissen, dass man irgendwo hingehört. Sie erinnert sich daran, wie schön dieses Gefühl sein kann. Dass es beruhigend sein kann. Aber auch daran, wie sehr es sie in manchen Momenten eingeengt hat. Wie sehr sie sich nach Freiheit, Unabhängigkeit gesehnt hat. Wie die dunklen Wolken der Geborgenheit ihr die Sicht auf ein unbeschwertes, freies Leben nahmen.

Sie liebt den Ausblick auf die Natur und das erinnerungslastige Gefühl von Zuhause.


Im Herzen werde ich es immer als das Zuhause meiner Kindheit behalten. Und jetzt ist die Zeit für ein neues Zuhause gekommen, egal wie es aussieht: auf Reisen, an einem festen Ort oder mit einem anderen Menschen. Es war einmal mein Zuhause. Aber eben nur das Zuhause, das sich meine Eltern ausgesucht haben. Das nächste Zuhause wird mein eigenes, persönliches Zuhause. Ein Zuhause, das ich selbst kreiere.



Sie betrachtet ein letztes Mal die ihr vertraute Landschaft, dreht sich um und schließt diesen Augenblick, dieses Gefühl von einem vergangenen Zuhause, ganz fest in einer verborgenen Ecke ihres Herzens ein.

2 Kommentare:

  1. Ein paar Jahre später fand sie sich auf ein Neues auf der Veranda ihrer Eltern wieder.

    In den letzten Monaten konnte sie die Frage nach ihrem eigenen, persönlichen Zuhause nicht abschütteln. Sie fragte sich häufig, ob sie es jemals finden würde, ob sie schon daran vorbei gezogen ist, auf all ihren Reisen, ob sie die Ausfahrt verpasst hat.

    Sicher, sie ist glücklich und zufrieden mit ihrem Leben. Aber sie hat keinen Ort den sie ihr Zuhause nennen konnte.
    Auf der ganzen Welt verteilt leben ihre Freunde, die sie besuchen kann, wann immer sie möchte.
    Ihre Arbeit macht ihr Spaß und führt sie an die verschiedensten Orte. Jeder dieser Orte findet einen Platz in ihrem Herzen, wird zu einem Stück Heimat. Und trotzdem, nach einem Jahr zieht sie mit Freuden und leichtem Herzen weiter zum nächsten Ort, so wohl sie sich auch gefühlt haben mag. Sobald sie länger an einem Ort ist, tritt ein Alltagstrott ein, den sie liebend gerne wieder gegen die Aufregung neuer Erfahrungen und die Abenteuer neuer Reisen eintauscht.

    Als sie dann diesen Spruch gesehen hat, “Zuhause ist die Heimat am schönsten”, fing sie an sich zu fragen, wann sie sich niederlassen würde.

    Deshalb kam sie zurück in das Zuhause ihrer Kindheit, um sich Klarheit zu verschaffen.
    Sie blickt auf die allzu vertraute Landschaft. Der einzige Ort, an dem sie jemals mehr als drei Jahre verbracht hat. Es ist alles so vertraut, aber es fehlt etwas. Etwas ist anders als das letzte Mal, dass sie einen Schritt über die Schwelle dieses Hauses gesetzt hat.
    Sie schließt die Augen und atmet tief die Landluft ein, lauscht der Brise, dem Vogelgezwitscher und der Ruhe. Eine Ruhe die zu groß erscheint.
    Und sie weiß, was ihr fehlt, hat sich selbst gefunden und legt ihren Zweifel ab. Denn sie hat ihr Zuhause schon gefunden. Ihre Tochter und ihre Frau — die Liebe ihres Lebens — sind für immer in ihrem Herzen und begleiten sie überall hin. Sie ist Zuhause wo ihre Familie ist, und alles andere verblasst zum Hintergrundgeräusch.
    Lächelnd dreht sie sich um und verlässt ein letztes Mal ihr altes Zuhause um zu ihrem neuen Zuhause zurück zu kehren. Zu ihrer Familie. Zu ihrem Herz.

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  2. Sehr schöne Fortsetzung geschrieben! Danke :)

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